Meister André Nocquet, ein Schüler Meister Morihei Ueshibas, berichtet von einer weiteren und der Meister Morihei Ueshibas treuesten Auslegung der Silbe AI. In der japanische Schrift werden nicht Buchstaben, sondern Silbenzeichen sowie japanische und chinesische Schriftzeichen verwendet. Liest man das Schriftzeichen AI nach dem chinesischen Symbol, das zwar in der Übersetzung in die Silbenschrift die gleiche Aussprache hat, sich aber in der Bedeutung der Silbe AI in dem Sinne ändert, wie Meister Morihei Ueshiba sie verstanden wissen wollte, dann bedeutet AI soviel wie „Liebe“ und „Zuneigung“. Wenn man den harmonischen Weg des Aiki als Ganzheit betrachtet, wird deutlich, dass Meister Morihei Ueshiba „Ai“ nach dieser Bedeutung auffasst. Nie sprach der O-Sensei davon, den Gegner ernsthaft zu verletzen. Die Quintessenz seiner Lehre steckt vielmehr in seinen eigenen Worten: „Im AIKIDO sollst du deinen Gegner in dein Herz schließen.“, was bedeutet, dass der AIKIDOKA seinem Partner keinen Schaden zufügen, sondern lediglich die negativen Kräfte des Partners neutralisieren und durch den harmonischen Weg den friedvollen Zustand wiederherstellen soll. AIKIDO unterscheidet sich von allen anderen Kampfsportarten dadurch, dass es in seinem Wesen „praktizierte Nächstenliebe“ darstellt.
Meister Morihei Ueshiba sah als Endziel seines von ihm geschaffenen Weges die gegenseitige Achtung, die aufrichtige Liebe und die wahre Freundschaft der Menschen. Seine Botschaft der Gewaltlosigkeit ist gerade heute hochaktuell und vielleicht ein Grund, warum die Zahl der AIKIDOKA rund um den Globus stetig zunimmt.
Geistige Entwicklung (SHI-IKU)
Es handelt sich hier in der angestrebten Transformation des gewöhnlichen Bewusstseins um die spirituelle Dimension des AIKIDO. Es ist dies wie mit dem Erlernen einer Fremdsprache: Ist diese Sprache völlig verinnerlicht, so hat man sich mehr angeeignet als nur eine Sprache, nämlich auch die dieser Sprache zu Grunde liegende Bewusstseinsform. So ist es auch mit dem hier: Durch langjährige, kontinuierliche Übungspraxis werden irgendwann einmal auch die dem AIKIDO wesentlichen Prinzipien verinnerlicht, wird sich die Bewusstseinsstruktur dementsprechend gewandelt haben. Es geht dabei letztendlich um die Entwicklung eines Einheitsbewusstseins allen Lebens, um die Erkenntnis der Wahrheit, dass im Grunde alles Leben eins ist und um die Verwirklichung einer Art „reinen“ oder „spirituellen“ Liebe, wie sie auch in anderen mystischen Traditionen und Schulen bekannt ist.
Was also ist AIKIDO?
Jemand stand eines Tages am Rand einer Klippe und sah zum ersten Mal in seinem Leben das Meer. „Wie schön es ist, welch ein großartiger Anblick!“ sagte er fast atemlos vor Staunen. „Ja“, so sein Freund, „und dabei siehst du doch nur die Oberfläche und nur einen Ausschnitt des Ganzen.“
Was AIKIDO in seiner ganzen „Weite und Tiefe“ ist, kann nur angedeutet werden. Eine schlüssige Antwort zu haben, würde vermutlich auch bedeuten, am Ende einer Entwicklung angekommen zu sein und ein Ziel erreicht zu haben, vergleichbar dem Beherrschen einer Technik (und selbst hier kann nie die tatsächliche Vollendung erreicht werden). Denn AIKIDO in all seiner Vielfalt lebt und verändert sich stetig. Dies ist nicht wie mit der Erlernen des 1×1 abgeschlossen. Ist man der Meinung, eine Technik endlich erlernt zu haben, so wird man bald feststellen müssen, dass man diese lediglich kennen gelernt hat und eine der vielen Möglichkeiten vielleicht zu können.
So kennt auch die Entwicklung eines Menschen kein Ziel, sondern nur einen Weg. Der Weg ist das Ziel – und mit jedem Schritt kann man seinem Ziel ein wenig näher gelangen, selbst wenn man hin und wieder einmal eine Pause einlegen oder auch einen Umweg machen muss.
Auch einen Berg kann selbst der erfahrenste Berggeher und Kletterer nicht auf dem geradesten Wege erklimmen!